EUD-Präsident Wieland: „Wir brauchen keine neue Verfassung“

„Wir lösen die europäische Krise nicht, indem wir unser überaus erfolgreiches Grundgesetz in Frage stellen“, sagt Rainer Wieland, der Präsident der Europa-Union Deutschland zur Debatte um ein Europa-Referendum. Der zur Stabilisierung der Währungsunion gebotene Transfer von nationalen Souveränitätsrechten könne auf Grundlage der bestehenden Verfassungsordnung geschehen.

„Ich weiß, dass eine gewisse Faszination von dem Weg ausgeht, den Artikel 146 unseres Grundgesetzes aufzeigt. Eine neue Verfassung wäre aber nicht der Königsweg aus der Krise, auch wenn das Bundesverfassungsgericht ihn in seiner jüngeren Rechtsprechung gleichsam vorzeichnet.“ Wieland plädiert für eine Volksabstimmung, die das Grundgesetz nicht ersetzt, sondern dessen Europaoffenheit stärkt.

„Wer sich heute die Reden und Texte von Robert Schumann, Charles De Gaulle, Konrad Adenauer, Kurt Schumacher, Theodor Heuss, Carlo Schmid und vielen anderen Akteuren an der Wiege von Grundgesetz und Europäischer Einigung vor Augen führt, weiß, dass der Geist von Frieden und Verständigung Eingang in das deutsche Grundgesetz gefunden hat und seine Präambel weder Verfassungslyrik noch Zufall, sondern Programm ist und das ganze Grundgesetz als Gründungsratio der Bundesrepublik Deutschland auch in seinem Kernbestand trägt“, so Rainer Wieland. Der EUD-Präsident betrachtet das Grundgesetz nicht nur als prinzipiell vereinbar mit einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration, sondern seine Präambel als Kompass auf deren Weg. „Wir müssen gewissermaßen die Präambel des Grundgesetzes in die Verfassung holen. In der Präambel unseres Grundgesetzes ist von dem Willen des deutschen Volkes die Rede, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden zu dienen“, zitiert Wieland das Grundgesetz. Das vereinte Europa ist auch das Ziel der Europa-Union Deutschland. „Die Präambel ist bei manchem Verfassungsrechtler zum Fußnotenlieferanten mit ‘Da-war-doch-noch-was-Texten’ verkommen. Sie muss in europarechtlichen Fragen von der gerade noch geduldeten Auslegungsregel wieder zum Prüfungsmaßstab der Verfassung werden – fast muss man sagen wieder, wenn man bedenkt, dass der deutsche Gesetzgeber die Gründung einer europäischen Armee bereits unwidersprochen gebilligt hatte“, so Wieland weiter.

Eines neuen Grundgesetzes bedürfe es dazu nicht, meint der EUD-Präsident. Im Gegenteil: „Wir sind mit unserem Grundgesetz in 60 Jahren besser gefahren als in Jahrhunderten zuvor – vielleicht gerade wegen des Auftrags zur europäischen Integration – und ein neuer Text würde geradewegs ins Klein-Klein der Tagespolitik führen.“

„Deshalb sollte eine Volksabstimmung über eine Grundgesetzänderung stattfinden, die den Souveränitätsverzicht zu Gunsten der europäischen Integration explizit erlaubt. Im Ergebnis muss es für Bundestag und Bundesrat möglich werden, jeweils mit Zweidrittelmehrheit weitere Kompetenzübertragungen auf die europäische Ebene vorzunehmen“, so Wieland. Dazu bedürfe es eben eines Referendums, das eine solche Europa-Klausel des Grundgesetzes legitimiert. „Wir können die Grenze, die Karlsruhe für die weitere Integration sieht, durch die vom Bundesverfassungsgericht als notwendig angesehene Volksabstimmung verschieben.“ Bundestag und Bundesrat sollen, so Wieland, in ihrer geteilten Europaverantwortung und im Sinne der Grundgesetzpräambel über alle künftigen Kompetenzübertragungen befinden können. Dazu bedürfe es weder besonderer rechtstechnischer Kniffe noch einer komplizierten Debatte, zeigt sich der EUD-Präsident überzeugt. „Ein entsprechendes Referendum könnte, getragen von allen europafreundlichen politischen Kräften in der Bundesrepublik, zügig durchgeführt werden. Wenn dies gewünscht ist, sogar zusammen mit der Bundestagswahl 2013.“

Hintergrund der zunehmend intensiv geführten politischen Auseinandersetzung um eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung ist die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. Allgemein wird erwartet, dass die Verfassungsrichter in Karlsruhe in ihrem für den 12. September erwarteten Urteil zu Fiskalpakt und Europäischem Stabilitätsmechanismus bekräftigen werden, eine europäische Integrationsgrenze sei erreicht, weitere Integration gefährde den Identitätskern des Grundgesetzes. Offen bleibt, ob Fiskalpakt und ESM noch innerhalb der Grenze liegen – oder bereits außerhalb. „Dabei ist doch die Offenheit des Grundgesetzes für Europa sein eigentliches Wesensmerkmal“, sagt Wieland.