Nach zwei Jahren „Zeitenwende“ müssen wir konstatieren, dass Europa in existenzielle Gefahr gerät. Die bisherige militärische Unterstützung der Ukraine reicht nicht aus, Russland aufzuhalten. Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas warnte gerade, es werde zu wenig wahrgenommen, was sich in den Weiten Russlands zusammenbraue. Sie hat recht. Moskau hat die Weichen mittlerweile vollständig auf Krieg gestellt. Seine Wirtschaft, die sich insbesondere dank China und Indien von den westlichen Sanktionen unbeeindruckt zeigt, ist eine Kriegswirtschaft. Seine Gesellschaft ist eine Kriegsgesellschaft. An den Schulen und Universitäten des Landes werden die jungen Menschen ideologisch indoktriniert und darauf vorbereitet, den vorgeblich wiederaufgenommenen Großen Vaterländischen Krieg (1941-1945) fortzusetzen. Der Mord an Alexej Nawalny pünktlich zur diesjährigen Münchener Sicherheitskonferenz zeigt, dass es keine Sicherheit mit diesem Russland geben kann und dass Putin sich auch hier verkalkuliert hat. Denn Nawalny steht jetzt unauslöschlich für ein anderes Russland. Seine Mörder haben ihn unsterblich gemacht.
Im November droht mit Donald Trump ein Mann ins Weiße Haus zurückzukehren, der die NATO-Beistandspflicht und damit die amerikanische Sicherheitsgarantie für Europa offen in Frage stellt. Mehr und mehr EU-Staaten investieren jetzt deutlich mehr in ihre Verteidigungsfähigkeiten. Diese zu erlangen braucht aber Zeit, und der nukleare Schutzschirm der Amerikaner dürfte kaum zu ersetzen sein. Während die Ukrainerinnen und Ukrainer unermessliche Opfer bringen, zaudern und zögern Verantwortungsträger in Deutschland und Europa bei der Lieferung von Waffensystemen, haben zu lange mit dem Ausbau von Produktionskapazitäten für Munition gewartet, oder sie lassen ihren Reden keine Taten folgen. Dabei sollte klar sein, dass ein ukrainischer Zusammenbruch nicht nur eine riesige Migrationsbewegung in Gang setzen würde. Russland hätte gelernt, dass hoher Einsatz lohnt, und der Feind stünde bald vom Arktischen Meer bis zum Schwarzen Meer durchgehend an den Grenzen der EU.
Die Balten wissen, was droht. Länder wie Finnland, Schweden und das eng an die EU assoziierte Norwegen bereiten sich sehr konkret auf das für Viele Undenkbare vor. Das gilt nicht nur für ihr Militär, sondern auch für ihre Gesellschaften. Wenig davon ist in Deutschland und den meisten anderen EU-Staaten zu sehen. Dabei gilt es neben der Wiederherstellung der Fähigkeit zur Landesverteidigung dringend Fragen zu beantworten, unter anderem wie es im Ernstfall um die Versorgungssicherheit der Bevölkerung bestellt ist oder ob die Verkehrsinfrastruktur massiven Truppenverlegungen gewachsen wäre.
Die Verantwortung für das Zurückdrängen Russlands und die Zukunft Europas lassen sich nicht voneinander trennen. Europa muss sich erweitern und gleichzeitig seine Handlungsfähigkeit sicherstellen. Russland darf auf dem Balkan keine Rolle mehr spielen. Auch andere unfreundliche Drittmächte dürfen ihren Einfluss dort nicht weiter ausbreiten. Die Ukraine entrichtet seit dem Euro-Maidan einen hohen Preis für ihren Weg nach Europa. Sie zeigt, dass die Demokratie stark sein kann. Es wird kaum möglich sein, sie warten zu lassen, nur weil die EU nicht in der Lage ist, ihre Institutionen zukunftsfest aufzustellen. Mit Moldawien und Georgien, die ohnehin bereits Opfer russischer Aggression geworden sind, darf sich nicht wiederholen, was der Ukraine widerfahren ist.
Statt die EU mit dem „German Vote“ lahmzulegen, sollte Berlin sein potenzielles Gewicht einbringen, um die EU handlungsfähig zu machen. Das Europäische Parlament hat dazu konkrete Vorschläge gemacht. Wir europäische Föderalistinnen und Föderalisten fordern seit vielen Jahren die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip und eine weitere Stärkung der Demokratie auf europäischer Ebene. Die Zeitenwende überstehen wird Europa nur, wenn es sich nicht auseinanderdividiert und die Mitgliedstaaten ihre gemeinsame Verantwortung so organisieren, dass europäische Politik aus einem Guss möglich wird. Die europäische Gesellschaft ist entgegen vieler Unkenrufe bereits Wirklichkeit. Was den EU-Bürgerinnen und Bürgern fehlt, ist eine den Anforderungen der Zeit angemessen handlungsfähige europäische Politik. Die Nationalstaaten allein werden nicht mehr für Freiheit, Sicherheit und Wohlstand sorgen können.
Es wäre fatal für Europa, wenn mit Blick auf die Entwicklung der USA ein Wettlauf einzelner EU-Staaten um die Gunst Washingtons die Folge wäre. Ansätze dazu hat es bereits während der ersten Präsidentschaft Trumps gegeben. Europa muss geschlossen auftreten und in der Welt mit einer Stimme sprechen. Berlin, Paris und Warschau müssen endlich eine gemeinsame Sprache finden, die weit über diplomatische Erklärungen und Formelkompromisse hinausreicht. Unsere Regierungen schulden das nicht nur uns, ihren Bürgerinnen und Bürgern. Sie schulden es auch der Ukraine, ihren tapferen Menschen und den vielen Opfern, die der Krieg bereits gefordert hat.
Christian Moos, Generalsekretär der Europa-Union Deutschland e.V.